"Liebt eure Feinde"

Corrie ten Boom und ihre Familie hatten in ihrem Haus in Holland während dem zweiten Weltkrieg verfolgten Juden Unterschlupf gegeben. Eines Tages wurde das Versteck verraten. Man brachte Corrie und ihre Angehörigen ins KZ Ravensbrück. Mehrere Familienmitglieder starben dort oder anschliessend an den Nachwirkungen dieser Leidenszeit. Durch ein Wunder wurde Corrie nach längerer Haft aus Ravensbrück entlassen. Sie wurde Missionarin und verkündigte die Botschaft der Liebe und Vergebung Jesu in der ganzen Welt. Im Folgenden ein sehr persönlicher Bericht (aus: "Entscheidung 4/94", gekürzt).

Es war 1947, und ich war aus den Niederlanden in das besiegte Deutschland gekommen mit der Botschaft, dass Gott vergibt. Die Menschen strömten aus der Kirche in der ich gerade gesprochen hatte.

Und in dem Moment sah ich ihn: der Mann, der da auf mich zukam, war Aufseher im Konzentrationslager Ravensbrück gewesen - einer der grausamsten. Nun stand er mit ausgestreckter Hand vor mir: "Sie nannten Ravensbrück in Ihrem Vortrag", sagte er. "Ich war dort Aufseher. Aber nach jener Zeit", fuhr er fort, "bin ich Christ geworden. Ich weiss, dass Gott mir alle Grausankeiten, die ich dort begangen habe, vergeben hat, aber ich möchte das gerne auch aus Ihrem Munde hören." Und wieder streckte er die Hand aus: "Wollen Sie mir vergeben?"

Es kann nicht lange gewesen sein, dass er da mit ausgestreckter Hand vor mir stand, aber es kam mir vor, als wären es Stunden, in denen ich mit dem Schwersten rang, was ich je hatte tun müssen.

Denn dass es geschehen musste, das wusste ich. Mit der Botschaft, dass Gott vergibt, ist eine Bedingung verknüpft: dass wir denen vergeben, die uns verletzt haben. "Wenn ihr den Menschen nicht vergebt", sagt Jesus, "wird euch euer Vater eure Übertretungen auch nicht vergeben" (Mt 6,15).

Und doch stand ich da mit kaltem Herzen. Ich wusste aber auch, dass Vergebung kein Gefühl ist. Vergebung ist eine Willenstat, und der Wille kann funktionieren, ohne Rücksicht auf die Temperatur des Herzens.

"Jesus, hilf mir!", betete ich im stillen. "Meine Hand kann ich wohl hochheben. Das gelingt mir schon noch. Sorge Du für die Liebe."

So legte ich hölzern, mechanisch meine Hand in die nach mir ausgestreckte Hand. Und als ich das tat, geschah etwas Unglaubliches: Der Strom begann in meiner Schulter, schoss durch meinen Arm und sprang auf unsere ineinandergelegten Hände über; dann schien diese heilende Wärme mein ganzes Wesen zu erfüllen, und Tränen standen mir in den Augen. "Ich vergeb Ihnen, Bruder! Von ganzem Herzen!" Lange drückten wir uns die Hand: der ehemalige Aufseher und die ehemalige Gefangene. Noch nie hatte ich Gottes Liebe so stark erfahren wie in jenem Augenblick. Zugleich aber wurde mir aufs neue klar, dass es nicht meine Liebe war. ich hatte es versucht - und wieder nicht die Kraft dazu gehabt. Es war die Kraft des Heiligen Geistes.

Münsingen, November 1994, gekürzt durch Markus Brunner
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